Seitenarchitektur
Unter Seitenarchitektur versteht man den Aufbau einer Comicseite – laut Will Eisner das „Meta-Panel“[1] –, bzw. meist sogar den Aufbau einer Doppelseite. Im Unterschied zu den meisten anderen Literaturgattungen besteht im Comic eine enge Kopplung ästhetischer und inhaltlicher Kriterien, die beide in den konkreten Aufbau der Seite einfließen. Da die Betrachtung und das Leseverhalten des Comics stark von dessen grafischer Konzeption abhängen, können Comiczeichner und -autor auf diese Weise den Handlungsverlauf (mit-)bestimmen. Hierbei haben alle Bildelemente eine narrative Komponente, beginnend mit den Rahmen.[2] Wie auch die „normale“ Architektur folgt der Aufbau von Comicseiten in der Regel Prinzipien von solidem Aufbau und einer harmonischen Gestaltung der Formen. Werden diese Prinzipien gebrochen und ein experimenteller Seiten- und Bildaufbau gewählt, so ist dies fast ausschließlich inhaltlichen Überlegungen geschuldet und wirkt daher nie „willkürlich“.[3]
Panel Grid Bearbeiten
Das Panel Grid, auf Deutsch manchmal als „Rahmengitter“ übersetzt, gibt die Anordnung der Rahmen um die Panels herum und damit den grundsätzlichen Aufbau einer Seite vor. Die meisten Comics legen ein einigermaßen starres, prototypisches Raster (uniform grid) fest, dem die Mehrzahl der Seiten prinzipiell folgen. Dieses Raster kann allerdings variiert werden, was auch häufig geschieht, meist, indem zwei Panels des Rasters zusammengelegt werden oder ein Panel in seiner Größe auf Kosten eines anderen überproportional erweitert wird. Experimentellere Comics neigen hingegen dazu, das Raster noch vollständiger aufzubrechen oder überhaupt kein fixes Raster vorzugeben, sondern jede Seite anders zu gestalten.[4] Diese Entscheidung kann ästhetischen Überlegungen folgen, aber auch bestimmte zusätzliche Botschaften vermitteln und dadurch die Handlung mitbestimmen.[5] Ein gleichmäßiges Rahmenraster entbindet demgegenüber die Rahmenlinien, ihre Position und den Leerraum zwischen ihnen von ihrer inhaltlichen Aussagekraft.[6]
Das den allermeisten Comics zugrunde gelegte, als harmonisch empfundene uniform grid geht von sechs bis acht Panels pro Seite aus, normalerweise aufgeteilt in zwei Spalten und drei bis vier Reihen. Zeitungscomics können aufgrund ihrer größeren Seiten mehr Panels abdrucken und haben dementsprechend ein Raster von drei Spalten und vier bis fünf Reihen. Andererseits haben Comics, die nicht im Alben-, sondern im kleineren Taschenbuchformat publiziert werden, gewisse Schwierigkeiten, vier Reihen pro Seite abzudrucken, da dies auf Kosten harmonischer Seitenarchitektur zu einer starken Verkleinerung der Panels führt. Diese Comics neigen daher eher zu dreireihigem uniform grid. Diese sich aus der Publikationsweise ergebenden Notwendigkeiten lassen sich bei Disney-Comics gut beobachten: Comics amerikanischer und dänischer Produktion sind in der Regel vierreihig, da sie für Comichefte im Albumformat produziert wurden. Diejenigen aus italienischer Produktion entstanden für das Topolino-Taschenbuch und vergleichbare Publikationen in ähnlichem Format und sind daher dreireihig. Egmont-Geschichten, die für das LTB und die entsprechenden Äquivalente in den anderen Ländern geschrieben werden, passen sich dem dreireihigen Format an. Vierreihige Geschichten werden kaum je im LTB und dessen Nebenreihen veröffentlicht.
Erzähltempo Bearbeiten
Das Panel Grid bestimmt das Erzähltempo des Comics. Große, detailreiche Bilder brauchen länger, um gelesen zu werden und verzögern daher das Lese- und Erzähltempo. Sie werden daher bewusst an Stellen eingesetzt, um retardierende Momente zu erzeugen und mehr Ruhe in den Erzählfluss zu bringen. Kleine Bilder hingegen beschleunigen die Handlung. Sie finden verstärkten Gebrauch bei dramatischen und actionreichen Szenen.[7][8] Zugleich kommen sie mit weniger Details aus, da diese Details durch frühere, großformatige Bilder bereits geklärt worden sind. Würde jedes Bild gleichermaßen detailreich ausgearbeitet, macht dies Erzähltempo und -fluss langsamer und schwerfälliger.[9]
Die eben konstatierten Unterschiede lassen sich auch bei der Gegenübersetzung des uniform grid mit experimentellen, aufgebrochenen Panel Grids mit individuellen Bildgrößen finden. Ersteres sorgt für einen geordneten, ruhigen Erzählfluss, letzteres ermöglicht ein dynamischeres Erzähltempo.[10] Auch der Abstand zwischen den einzelnen Panels und die Unterbrechungen zwischen diesen haben großen Einfluss auf das Erzähltempo. Größere Abstände, hineingeschobene Textboxen oder sogar weitgehend leere Panels sorgen für einen narrativen Bruch in der Erzählung und vermindern das Tempo. Je mehr die Panels hingegen ineinandergreifen (teilweise auch durch Überlagerungen), desto stärker ist auch der narrative Konnex und die Bereitschaft beim Lesen, die Panels fast gleichzeitig zu erfassen und zu lesen. Das Ausgreifen in den Panelrahmen sorgt hierbei nicht nur für größere räumliche Tiefe, sondern betont auch das entsprechende Objekt im Panel, was wiederum Einfluss auf das Erzähltempo nimmt.[11]
Eine besondere Rolle im Erzähltempo spielt oft das Splash-Panel. Zwar wird das Splash-Panel als solches aufgrund dessen Größe und Detailreichtum meist länger betrachtet und hemmt insofern den Lesefluss. Doch das Platzieren eines Splash-Panels auf der Seite, das sofort beim Aufschlagen den Blick auf sich zieht, führt zu einem beschleunigten Lesetempo der anderen Panels auf dieser Doppelseite, da der Leser schnell zum Splash-Panel gelangen will, was zur Folge hat, dass die anderen Panels weniger genau betrachtet werden.[3] Zwei unterschiedliche Einsatzmöglichkeiten von Splash-Panels gibt es: Einerseits werden sie – hervorstechend etwa in den Comics von Carl Barks – oft an dramatischen und actionreichen Höhepunkten der Geschichte eingesetzt, an denen sich die aufgebaute Spannung entlädt, und verstärken damit das Erzähltempo. Eine andere Funktion nehmen hingegen Splash-Panels auf der ersten Seite (opening splash) ein, die Schauplätze zeigen und charakterisieren wollen[12] und daher das Tempo drosseln. Solche Schauplatz-zeigende Splashs können auch innerhalb einer Geschichte verwendet werden und signalisieren dabei fast immer narrative Brüche mit verbundenem retardierendem Moment im Erzähltempo.
Erzählebene Bearbeiten
Comics als Form der „sequenziellen Kunst“[13] mit einer „Dominanz des Bildes über den Text“[14] kennzeichnet schon aufgrund ihrer Definition mehrere Ebenen, auf der die Erzählung vonstatten geht. Im Normalfall tritt neben die Bildebene auch eine Textebene und beide in Kombination erzählen die Geschichte, während sie jeweils alleine betrachtet nur ungenau zu verstehen sind. Die beiden Ebenen sind in ihrer Aussage dabei so gut wie nie synchron, sodass sich durch das Lesen des Textes eine Bedeutungsverschiebung der Ausdeutung des betrachteten Bildes ergeben kann, und umgekehrt.[15] Mitunter verzichten Comics auf die Textebene, allerdings nicht oft und wenn dann gemeinhin nur für einzelne Sequenzen innerhalb einer Geschichte, um damit eine bestimmte Wirkung zu erzielen. So kommt Kapitel 11 der Saga Drachenritter, Der Schrei in der Stille, bis auf Textboxen zu Beginn und den lauten Verzweiflungsschrei der Drachenmutter am Ende ganz ohne Text aus, um die Dramatik des Verlusts des Drachenkindes und der Verzweiflung der Mutter eindrücklicher herauszuholen. In Piratengold verzichten einige Actionszenen auf Text, da das Lesen des Textes das Erzähltempo verlangsamen würde und ohne Text eine stärker filmische Wirkung (Storyboard-Wirkung) erzielt werden kann. Ganz ohne Worte kommen die Silent Stories aus. Einen abschnittsweisen Verzicht auf die Bildebene gibt es in Disney-Comics hingegen nicht (wohl aber in Bilderbüchern).
Zu den beiden Hauptebenen treten mehrere Unterebenen, die wiederum auf den Aufbau der Comicseite, also die Seitenarchitektur, Einfluss nehmen. Auf der Textebene unterscheidet man pro Comic mindestens mal die Textboxen, die Sprechblasen, allenfalls die Gedankenblasen sowie die Soundwords, die alle Geschehen ausdrücken, das auf unterschiedlichen Ebenen abläuft. So erlauben etwa Gedankenblasen eine Introspektion der Gefühls- und Gedankenwelt der handelnden Figur, die den anderen Figuren nicht offenbar wird und im Widerspruch zur Sprechblase und der damit verbundenen Erzählebene stehen kann. Je nachdem, ob Panels Textboxen oder Soundwords enthalten, wird ihre Stellung im Panel Grid (mit-)bestimmt. Textboxen, die Zeitsprünge, Ortswechsel oder Ähnliches ausdrücken, und die mit ihnen verbundenen Panels stehen vornehmlich am Anfang der Seite. Soundwords sind meist Ausdruck eines aktiveren Geschehens, auf das die Seite erst hinleitet, und finden sich daher seltener am Seitenanfang.
Meist durch die Bildebene und das Panel Grid, manchmal auch durch zusätzliche grafisch abgehobene Gestaltung der Textebene, werden weitere Erzählebenen definiert und abgegrenzt. Ein wichtiges Charakteristikum mancher Comics sind Handlungen, die im Hintergrund ablaufen und von der Haupthandlung weitgehend unberührt sind. Diese können surreale Scherze umfassen, Kommentare zur Arbeitsweise des Zeichners oder zum Kontext liefern.[16] In den Geschichten von Carl Barks finden sich im Hintergrund etwa schrullige Erfinder auf witzigen Fahrzeugen; in den Düsentrieb-Geschichten agiert Helferlein häufig in einer Parallelhandlung. Rückblenden und Rahmenhandlungen stellen unterschiedliche Erzählebenen dar, die grafisch durch geänderte Rahmenlinien oder ähnliche Merkmale von der Haupthandlung abgegrenzt werden (siehe auch unten Erzählzeit). Die Ebenen der Haupthandlung und der Rahmenhandlung können ineinander übergreifen, manchmal sogar innerhalb des gleichen Panels. Im Splashpanel zu Die Ducks ... vom Winde verweht von Giovan Battista Carpi bietet er nicht nur den auf dem Sofa ruhenden Donald als Ausgangspunkt der Rahmenhandlung, sondern stellt um diesen herum bereits Stimmungsbilder dar, die die Haupthandlung, nämlich die Adaption von Margaret Mitchells berühmtem Roman, vorbereiten. In Das Geheimnis der Silberleuchter kommt es in zumindest einem Panel zu einem unmittelbaren Übergang von Rahmen- zu Haupthandlung.
Erzählzeit Bearbeiten
In Comics unterscheidet man zwischen der Erzählzeit und der erzählten Zeit. Erstere beschreibt, wie viel Zeit es beansprucht, eine bestimmte Handlung oder Sequenz zu erzählen und greift damit unmittelbar in das Erzähltempo über. Die Erzählzeit ist dabei aber auch zu einem gewissen Grad vom Leser abhängig, da jeder unterschiedlich lange zum Lesen der Sequenzen braucht. Die erzählte Zeit beschreibt, welche Zeitspanne erzählt wird.[17]
Erzählzeit und erzählte Zeit divergieren in der Regel, mal mehr, mal weniger. In Actionszenen sorgen hohes Erzähltempo und viele, schnell getaktete Bilder für eine längere Sequenz des Comics (unter Umständen mehrere Seiten) und damit für eine längere Erzähl- und Lesezeit. Ein Panel steht dabei nur für einen kurzen Moment der Handlung. Gleichzeitig ist die erzählte Zeit, also die Actionszene an sich, nicht unbedingt eine besonders lange Zeitspanne im Gefüge der gesamten Zeitdauer, die der Comic zu erzählen versucht. Der gegenteilige Effekt tritt bei größeren Bildern und ruhigeren Sequenzen ein. Hier kann es sein, dass eine länger andauernde Handlung in nur einem Panel angedeutet wird und das eine Bild damit für den gesamten Handlungszusammenhang steht (Metonymie).[18] Ein Panel steht dabei für eine ganze Autofahrt vom Geldspeicher zum Flughafen. Die Erzähl- und Lesezeit ist damit kurz, die erzählte Zeit relativ lang. In besonderen Fällen kann es hier sogar zu einer zeitlichen Divergenz von Bild- und Textebene kommen. Während die Bildebene bei der Fahrt zum Flughafen eine lange Zeitspanne suggeriert, geht der Dialog zwischen Dagobert und seinem Neffen unmittelbar von einem Panel ins nächste über, wodurch textlich in der erzählten Zeit zwischen den Bildern nur wenige Sekunden liegen. In anderen Fällen wird eine längere Handlung in nur einem einzigen Panel gezeigt,[19] was es vonnöten macht, dass die Figuren mehr als einmal darin dargestellt sind (etwa in der Serie Goofy – Eine komische Historie) oder zur Darstellung schneller, wilder Bewegung ihre Arme und Füße mehrfach zu sehen sind.
Ein besonderer Stellenwert in Bezug auf die Zeit kommt einerseits der zeitlichen Verortung des Comics zu,[20] andererseits den Brüchen innerhalb der erzählten Zeit aufgrund des Einflusses verschiedener Erzählebenen, von Rahmenhandlungen, Rückblicken und dergleichen. Diese besonderen Elemente der erzählten Zeit werden grafisch oft stark abgetrennt und beeinflussen daher die Seitenarchitektur. Gewellte Rahmenlinien bedeuten Rückgriffe auf Träume, Erinnerungen oder frühere Zeitebenen.[21] Bisweilen werden diese Zeitebenen durch andere Kolorierung oder anderen Zeichenstil abgegrenzt,[22] bspw. in der Serie Die Legende des ersten Phantomias, in der die wenigen Sequenzen, die in der Gegenwart spielen, auch normal koloriert sind und nicht in dem für die Serie üblichen Sepia-Stil.
Sequenzkonstruktion Bearbeiten
Die Sequenzkonstruktion und die darauf aufbauende Konstruktion der Narration des Comics (die mehrere Sequenzen aneinanderreiht und zu einer gesamten Geschichte verbindet) ist die wesentlichste Grundlage für den Seitenaufbau. Die einzelnen Panels auf einer Seite stehen stets in einem Zusammenhang und wirken aufeinander ein, selbst wenn der inhaltliche Zusammenhang nicht gegeben ist (was Scott McCloud als „Paralogie“ bezeichnet).[23][24] Die daraus folgende Konstruktion einer Narration, einer ablaufenden Erzählung, geschieht allerdings zum Teil erst durch den Leser (Inferenz oder Induktion), demzufolge muss der Zeichner in der Sequenz auch nicht jedes Bild darstellen und kann sich zur Vervollständigung der Narration auf den Leser verlassen.[25][26] Was hingegen vorgegeben werden muss, damit der Leser die Sequenz richtig konstruiert, sind Seitenfluss und Leserichtung. Ein Comic mit uniform grid kann sich auf die im westlichen Raum übliche Leserichtung von links nach rechts und oben nach unten verlassen, während beim Lesen von Mangas klar ist, dass diese von rechts nach links, hinten nach vorne gelesen werden. Ungewöhnliche Bildfolgen und aus dem starren Raster ausbrechende Panels brauchen allerdings grafisch gestaltete Übergänge (etwa kleine Pfeile zur Leitung der Leserichtung, wie es in Disney-Comics üblich ist).[27] Fehlen solche eindeutigen, den Blick lenkenden Übergänge, kommt es Verwirrung im Lesefluss, was gewünscht sein kann, meist aber einem Fehler von Autor und Zeichner zuzuschreiben ist.
Die Kombination der einzelnen Panels auf der Seite ermöglicht, Schwerpunkte zu setzen, auf die die Sequenzkonstruktion hinsteuert und die darum für die Narration von entscheidender Bedeutung sind.[28] Diese Funktion übernehmen Splash-Panels, sofern vorhanden, oder im Zeitungsstrip (und bisweilen auf der Comicseite) das jeweils letzte Bild der Sequenz, das Spannung aufbauen und zum Umblättern, bzw. zum Kauf der folgenden Zeitung veranlassen soll, damit man erfährt, wie die Geschichte weitergeht. Die Comicstrips von Floyd Gottfredson haben diese Technik der Sequenzkonstruktion perfektioniert. In den klassischen Maus-Geschichten Romano Scarpas findet sich demgegenüber die Technik des „falschen Strips“: Trotz des dreireihigen Aufbaus von Doppelseiten für das Taschenbuchformat konstruiert Scarpa seine Sequenzen wie Comicstrips mit jeweils vier zusammengehörenden Panels, was den Schwerpunkt der Seite immer wieder auf andere Panels lenkt, als sie auf herkömmlich aufgebauten Doppelseiten liegen würden. Daraus folgt auch, dass die Panels im Hinblick auf die Sequenzkonstruktion gestaltet werden. Der Aufbau der Sequenz als Ausdruck der inneren Dramaturgie der Geschichte ist dabei eine erzählerische Notwendigkeit: Höhepunkte müssen vorbereitet und eingeleitet werden,[29] der Ausbruch aus starren Rastern einer Comicseite etwa durch Entladung der Action in einem Splash-Panel folgt einem längeren Aufbau von Spannung und Konfliktpotential (bspw. gut zu beobachten in Der Geist der Grotte, Zu viele Weihnachtsmänner, Der geheimnisvolle Kontinent Mu).
Gemäß Scott McCloud sind mehrere grundsätzliche Formen der Sequenzkonstruktion (auch als Montage bezeichnet) voneinander abzugrenzen: In der Parallelmontage werden zwei Erzählungen nebeneinander oder unmittelbar hintereinander abgebildet. Oft treffen diese mit der Zeit aufeinander. Die erzählerische Montage bedeutet, die Handlung linear fortschreitend abzubilden und ist die häufigste Montageform. In der beschleunigten Montage wird die Handlung auf wesentliche Elemente reduziert. Rück- und Vorblenden oder andere Einschübe sind ebenfalls eine mögliche Montageform. Zu guter Letzt gibt es noch die Schachtelmontage, die Bilder ineinander schachtelt, ohne auf interne Chronologie oder Linearität Rücksicht zu nehmen.[30] Dieser primären Unterscheidung folgen weitere, die sich auf den Übergang zwischen den einzelnen Panels beziehen und in der sich Übergänge von Augenblick zu Augenblick, von Handlung zu Handlung, von Gegenstand zu Gegenstand, von Szene zu Szene oder von Gesichtspunkt zu Gesichtspunkt voneinander abgrenzen lassen.[31] Auch diese unterschiedlichen Formen der Sequenzkonstruktion erfordern oft unterschiedliche Formen des Seitenaufbaus. Wird von herkömmlicher erzählerischer Montage und Fortschreiten von Handlung zu Handlung abgewichen (beide Konstruktionsformen gelten für die allermeisten Sequenzen der allermeisten Comics), ist die Tendenz zu progressiver, experimenteller Seitenarchitektur viel stärker. Dies lässt sich etwa bei Mangas gut beobachten.
Progressive Seitenarchitektur und Aussagen der Meta-Ebene Bearbeiten
Bewegung, Bewegungslinien und Diagonalen im Bildaufbau können durch den Aufbau der ganzen Seite verstärkt werden. Die Panelrahmen passen sich dabei den Objekten und ihren Bewegungen an, geben diesen soviel Platz, wie diese benötigen, und erzeugen gleichzeitig ungewöhnliche Perspektiven, Überlagerungen und über das uniform grid hinausgehende Aussagen in der Sequenz- und Narrativkonstruktion. Durch die Gestaltung der Seite und der Panelrahmen lassen sich also auch Aussagen erzielen, die über die erwähnten herkömmlichen Erzählebenen weit hinausgehen. Gute Beispiele bieten manche Geschichten von Carl Barks. In Die Jagd nach der Brosche werden die Panels im Mittelteil der Geschichte zunehmend nach den Bewegungslinien ausgerichtet und erzeugen dadurch einen guten Eindruck der schwindelerregenden Verfolgungsjagd Donalds durch das gesamte Zirkuszelt. Dessen Proportionen und Höhe muss Barks hier gar nicht durch Gesamtbilder darstellen, um einen Eindruck des „Narrenhauses“ Zirkus zu vermitteln und den Leser immersiv in das Geschehen hineinzuziehen.[32] In Familie Duck auf Ferienfahrt gelingt Barks durch Verschub der Panels und deren Ausrichtung an den Bewegungen, für den Leser ebenso wie Donald längere Zeit verborgen zu halten, dass er einen Hirsch geangelt hat, bis er diesen vollständig zu Gesicht bekommt. Auch hier ist also ein viel unmittelbareres Erzählen möglich und dem Leser gelingt es nicht wie in anderen Geschichten, in eine auktoriale Position zu kommen und Elemente der Handlung zu überblicken, bevor Donald diese selbst durchschaut.
Einem völlig anderen Ziel folgt die Konstruktion eines Panels knapp vor dem Ende derselben Geschichte, als die Ducks sich gerade vor dem Waldbrand gerettet haben. Mit der spitz zulaufenden Form des Panels gelingt es Barks, auf der Metaebene der Seitenarchitektur eine Antwort auf die in der Textebene gegebene Frage zu geben und schon auf Ticks Kamera hinzuweisen, die den Ducks ermöglichen wird, die Schuld des wahren Übeltäters zu beweisen.[33]
In der Comicserie Goofy – Eine komische Historie ermöglicht die progressive Seitenarchitektur ebenfalls Verbindungen zu Handlungselementen, die kurz darauf bedeutend werden. Das Ineinander-Übergreifen der einzelnen Panels oder die Darstellung einer fortlaufenden Handlung innerhalb eines einzigen Panels inklusive der mehrfachen Darstellung Mickys und Goofys erlaubt Aussagen über den Zeitablauf auf der Meta-Ebene, die über die herkömmliche Vorstellung von Erzählzeit hinausgehen. Die kreativen Panelrahmen unterstreichen ferner den insgesamt absurd-avantgardistischen Touch der Serie und lassen durch ihre bewusste Wahl die Seite zu einem Gesamtkunstwerk werden.
In der Asgardland-Saga durchbricht Massimo De Vita die vierte Wand durchbricht und die Figuren aus den Panels heraustreten und gegen den Zeichner rebellieren lässt. An anderer Stelle durchbricht Micky gleichsam die Comicseite, nur um auf der nächsten in Asgardland und damit in einer anderen Welt zu landen. All diese Beispiele sind durch den Leser zu entschlüsselnde Meta-Aussagen und -Erzählebenen, die anspruchsvoller sowohl für den Comiczeichner beim Entwerfen der Seite als auch für den Leser sind.
Einzelnachweise Bearbeiten
- ↑ Will Eisner (2006): Comics and Sequential Art. 28. Aufl. (Paramus, NJ: Poorhouse Press), S. 63.
- ↑ Jakob F. Dittmar (2017): Comic-Analyse. 2., überarb. Aufl. (Köln: Halem), S. 57.
- ↑ 3,0 3,1 Andreas Platthaus (2008): Die 101 wichtigsten Fragen. Comics und Manga (München: C. H. Beck), S. 24–26.
- ↑ Dittmar: Comic-Analyse, S. 62.
- ↑ Dittmar: Comic-Analyse, S. 124–125.
- ↑ Dittmar: Comic-Analyse, S. 127.
- ↑ Dittmar: Comic-Analyse, S. 59–60.
- ↑ Eisner: Comics and Sequential Art, S. 28–37.
- ↑ Dittmar: Comic-Analyse, S. 123.
- ↑ Dittmar: Comic-Analyse, S. 62–63.
- ↑ Dittmar: Comic-Analyse, S. 66.
- ↑ Eisner: Comics and Sequential Art, S. 62.
- ↑ Eisner: Comics and Sequential Art.
- ↑ David Kunzle (1973): The Early Comic Strip: Narrative Strips and Picture Stories in the European Broadsheet from c. 1450 to 1825 (Berkeley/Los Angeles: University of California Press), S. 2.
- ↑ Dittmar: Comic-Analyse, S. 179.
- ↑ Dittmar: Comic-Analyse, S. 180–181.
- ↑ Dittmar: Comic-Analyse, S. 171.
- ↑ Dittmar: Comic-Analyse, S. 172–173.
- ↑ Dittmar: Comic-Analyse, S. 173.
- ↑ Dittmar: Comic-Analyse, S. 175–177.
- ↑ Eisner: Comics and Sequential Art, S. 44.
- ↑ Dittmar: Comic-Analyse, S. 180.
- ↑ Dittmar: Comic-Analyse, S. 119, 133.
- ↑ Scott McCloud (2001): Comics richtig lesen (Hamburg: Carlsen), S. 80–81.
- ↑ Dittmar: Comic-Analyse, S. 121.
- ↑ McCloud: Comics richtig lesen, S. 71–77.
- ↑ Dittmar: Comic-Analyse, S. 75–76, 123.
- ↑ Dittmar: Comic-Analyse, S. 123.
- ↑ Dittmar: Comic-Analyse, S. 128.
- ↑ Dittmar: Comic-Analyse, S. 131.
- ↑ McCloud: Comics richtig lesen, S. 78–88.
- ↑ Geoffrey Blum: Das reinste Irrenhaus. In: Carl Barks Collection VIII, S. 150.
- ↑ Donald Ault: Carl Barks und die Kunst der Perspektive. Übersetzt von Johnny A. Grote. In: Barks Library Special Donald Duck 18.